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Die Archiv- und Wechselschnittstelle. Oder: Die 100 Möglichkeiten, ein Pferd totzureiten

Praxen können aus einer Vielzahl an Softwarelösungen wählen und bei Bedarf dank solider, seit vielen Jahren etablierter Prozesse und Tools das System zumeist ohne Datenverlust wechseln. Die jetzt politisch forcierte Archiv- und Wechselschnittstelle ist keine empfehlenswerte Alternative.

Bunter Markt für Praxissoftware
Die Praxissoftware ist das zentrale digitale Arbeitsmittel in den Einrichtungen der ambulanten Versorgung. Arztpraxen können ihre Software aus einer Vielzahl von Systemen wählen, die sich in funktionellem Umfang, ihrer Ergonomie, der technologischen Basis, ihrer Modularität und ihren Schwerpunkten für verschiedene Fachgruppen unterscheiden. Damit findet sich in diesem lebendigen Markt für jeden Bedarf eine passendes Praxissoftware. 

Der Wettbewerb zwischen den Softwareherstellern führt dazu, dass jährlich mehrere tausend Praxen einen Wechsel auf eine Software eines anderen Anbieters durchführen. Ein Blick in die Installationsstatistiken der KBV, die auch die Veränderungen zum Vorquartal ausweisen, zeigt: Praxissoftwarewechsel finden nachweislich statt, von forcierten "Lock-In-Effekten" kann daher kaum die Rede sein. Gleichzeitig kann sich der Umstieg auf eine andere Software durchaus lohnen, will aber sorgfältig geplant sein (siehe: Praxissoftware wechsel dich — die Mär vom "Ein-Klick-Systemwechsel").

Theoretisch top, praktisch flop
Als Alternative zu bestehenden Lösungen, hat der Gesetzgeber – ohne nachvollziehbaren Grund – die KBV mit der technischen Spezifizierung der sogenannten Archiv- und Wechselschnittstelle (AWST) beauftragt. Ziel dieser Schnittstelle ist es vor allem, die Datenübertragung von einem Praxissystem in ein anderes zu ermöglichen, um den Softwarewechsel zu erleichtern.

Diesem Anspruch kann die AWST allerdings bis heute nicht standhalten, denn sie bringt keine Mehrwerte in die Versorgung und ist faktisch nicht für einen Umstieg einsetzbar. Ganz im Gegenteil, sie behindere sogar durch ihren Architekturansatz einen schnellen und wirtschaftlichen Wechsel, rügte Sebastian Zilch, damaliger Geschäftsführer des Bundesverband Gesundheits-IT - bvitg.

Fast zwei Jahre nach ihrer Einführung im Juni 2021 wird die Schnittstelle bis heute nicht genutzt. Hauptgrund: Bei der Migration kann nur ein Bruchteil der Daten berücksichtigt werden. Informationen, beispielsweise zu Privatpatientinnen und -patienten, berufsgenossenschaftlichen Behandlungen oder komplexen Daten aus Selektivverträgen, bleiben unberücksichtigt. Auch durch den geringen Exportumfang geht die Archiv- und Wechselschnittstelle deshalb am Bedarf von Praxen vorbei; einem Bedarf, der seit langem durch gut etablierte Marktangebote befriedigt wird, siehe zum Beispiel bei SYSCON.

Zudem ist unklar, wie die aus dem Quellsystem extrahierten Daten schließlich ins Zielsystem gelangen sollen. Dies würde ein feingranulares Berechtigungssystem erfordern, das beim Import der extrahierten Daten stets die Berechtigungen prüft. Dadurch wiederum würden allerdings die Importzeit und die Datenmenge so drastisch erhöht werden, dass zusätzliche Hardware benötigt wird. Ein Standard-PC verfügt nicht über genügend Ressourcen, um Anfragen dieser Art verarbeiten zu können. Die Archiv- und Wechselschnittstelle kann also rein physikalisch die erforderliche Leistung nicht erbringen. 

Warum dennoch gewechselt wird
Die gute Nachricht ist: Nichtsdestotrotz ist ein Softwareumstieg weiterhin komfortabel über den etablierten, fortlaufend weiterentwickelten Standard xBDT möglich. Dafür werden gemeinsam mit der Praxis die gewünschten Datenpakete gesichtet und anschließend via xBDT konvertiert und migriert. Export- und Import-Routinen, die diesen Standard nutzen, werden seit Langem jährlich tausendfach für Systemumstellungen sowie Datentrennungen und Datenzusammenführungen verwendet. Damit sind Systemumstellungen mit einem Datenumfang von annähernd 100% möglich – und dem Migrationspotenzial der AWST signifikant überlegen. 

Eine Weiterentwicklung der Archiv- und Wechselschnittstelle ist aufgrund der mit dem xBDT bestehenden, etablierten Möglichkeiten und der schnellen Reaktion des Marktes auf Änderungen weder zielführend noch wirtschaftlich. Aus politischen Gründen soll die AWST jedoch weiter fortgeschrieben werden. Schließlich ist die Mär vom „mühelosen Softwarewechsel per Knopfdruck“ eine schöne Geschichte, die – vielleicht politisch gewollt – von den eigentlichen Herausforderungen ablenkt. 

In Zeiten, in denen viele konkurrierende Digitalisierungsprojekte auf ihre Umsetzung warten, sollte der Dialog über die Sinnhaftigkeit der AWST dringend nochmals aufgenommen werden. 

Eine gute Gelegenheit zur Diskussion des Themas bietet die DMEA 2023 in der Session "Der Mythos vom unmöglichen Wechsel der Praxissoftware" am 25.04.2023 von 10:15 bis 11:00 Uhr in _Box 1, Halle 4.2.